Lernfabrik – ein integriertes Automatisierungskonzept für die moderne Produktion in Lehre und Forschung

Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth, Institut für Systemdynamik, HTWG Konstanz

"Eingesetzt wird ein hoch standardisiertes Automatisierungskonzept, das auf einem nach Lean-Kriterien optimierten Produktionsprozess aufsetzt. Die gesamte Lernfabrik ist unter den gleichen Gesichtspunkten wie das Modellfahrzeug als CPS automatisiert. Zum Einsatz kommen NI-Komponenten wie myRIO, myDAQ, CompactRIO sowie grafische Programmierung mit LabVIEW – auch in Kombination mit Arduino-Boards."

- Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth, Institut für Systemdynamik, HTWG Konstanz

Die Aufgabe:

Die Einführung von cyberphysischen Systemen in der Fertigung wird die Arbeitsbedingungen und Prozesse genauso wie Geschäftsmodelle stark verändern. In der Praxis kann eine wachsende Diskrepanz zwischen Großunternehmen und KMU beobachtet werden. Genau diese Diskrepanz soll die im Folgenden präsentierte Lernfabrik überbrücken, die Unternehmen eine Plattform zum Probieren bietet, die Möglichkeit zur Ausbildung von Studenten und Mitarbeitern schafft und Beratungsangebote bereithält.

Die Lösung:

Zur Umsetzung wird ein integriertes, offenes und standardisiertes Automatisierungskonzept vorgestellt, das einzelne Geräte, ganze Produktionslinien bis hin zu höheren Automatisierungssystemen umfasst und auch eine Community bereitstellt sowie zur Umsetzung neuer Geschäftsmodelle dient.

Autor(en):

Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth - Institut für Systemdynamik, HTWG Konstanz
Prof. Dr.-Ing. Carsten Schleyer - Fakultät Maschinenbau, HTWG Konstanz
M. Eng. Daniel Feuser - Fakultät Maschinenbau, HTWG Konstanz

 

Kurzfassung

Die Einführung von cyberphysischen Systemen in der Fertigung wird die Arbeitsbedingungen und Prozesse genauso wie Geschäftsmodelle stark verändern. In der Praxis kann eine wachsende Diskrepanz zwischen Großunternehmen und KMU beobachtet werden. Genau diese Diskrepanz soll die im Folgenden präsentierte Lernfabrik überbrücken, die Unternehmen eine Plattform zum Probieren bietet, die Möglichkeit zur Ausbildung von Studenten und Mitarbeitern schafft und Beratungsangebote bereithält. Zur Umsetzung wird ein integriertes, offenes und standardisiertes Automatisierungskonzept vorgestellt, das einzelne Geräte, ganze Produktionslinien bis hin zu höheren Automatisierungssystemen umfasst und auch eine Community bereitstellt sowie zur Umsetzung neuer Geschäftsmodelle dient.

 

Einleitung

Die Integration von Menschen, Dingen und Maschinen wächst rasant. Digitalisierung und Automatisierung führen zu kürzeren Produktlebenszyklen und einem global zunehmenden Konkurrenzdruck. Der Begriff Cyberphysisches System (CPS) steht für die Digitalisierung und erhöhte Flexibilität von Systemen. Die Einführung von CPS in der Produktion ermöglicht die Herstellung von hoch individualisierten – sogenannten customized – Produkten. Hierfür müssen Montagelinien, Maschinen und Produkte bzw. Halbzeuge verlinkt werden. Damit kann der Automatisierungsgrad von Fertigungslinien stark gesteigert werden, was wiederum zu einer deutlichen Effizienzsteigerung führt. Die CPS interagieren mit Sensoren und Aktoren, verarbeiten Daten weitgehend autonom und dezentral und kommunizieren häufig über kabellose Netzwerke. Eine Zustandsüberwachung ermöglicht die Kontrolle und Analyse der Produktion und gibt Bedien- und Optimierungsempfehlungen.

 

Wie Untersuchungen zeigen, verfügt aktuell jedoch nur ein Viertel der Unternehmen überhaupt über eine geeignete Basis zur Einführung von CPS in der Fertigung, d. h. ausreichend vernetzte Maschinen. 16 % der Unternehmen kennen den Begriff CPS nicht und nur 4 % setzen CPS in der Produktion ein. Speziell die KMUs scheuen die hohen Kick-off- Investitionen und die Ungewissheit der erzielbaren Kosteneffektivität. Es fehlen praxisorientierte Test- und Laboreinrichtungen, mithilfe derer sie sich mit der Technik und den möglichen Geschäftsmodellen vertraut machen können. Idealerweise erfolgt dies in einem unternehmensnahen Umfeld, sodass auch der hochkomplexe Transformationsprozess transparent wird.

 

Der Ansatz der Lernfabrik an der HTWG Konstanz basiert auf einem hoch standardisierten, selbstoptimierenden und selbstorganisierenden Automatisierungskonzept, bei dem ausgehend von einem durch Lean-Methoden optimierten Prozess der Automatisierungsgrad schrittweise erhöht wird: Folglich erhöht sich damit Effektivität und Produktivität der Produktion in der Lernfabrik. Vorgeschlagen wird ein ganzheitliches systemisches Vorgehen, das sich nicht nur auf die Produktionslinie bezieht, sondern alles vom Produkt über die Organisation und Geschäftsmodelle bis hin zur Ausbildung der Mitarbeiter umfasst. Die Basis des Konzepts bildet ein CPS. Aufgrund der hohen Standardisierung und Leistungsfähigkeit kann das verwendete CPS gleichzeitig in den Komponenten der Produktionslinie als auch im dort gefertigten Produkt eingesetzt werden.

 

Cyberphysisches Produkt

Das CPS-Produkt, das in der Lernfabrik exemplarisch produziert wird, ist ein intelligentes Modellfahrzeug in Modulbauweise, das sich durch hohe Funktionalität und Kommunikationsfähigkeit auszeichnet. Das Automatisierungssystem des CPS bildet eine Kombination aus Arduino, Raspberry PI und Mikroprozessorboards, (Bild 1).

 

Die Programmierung der Arduinos erfolgt grafisch mit LabVIEW: Damit können einfach komplizierte Algorithmen implementiert werden. Das Modellfahrzeug kann modular mit Sensoren – wie Abstandssensoren, Kamera, LED-Effekte, Sound usw. – kundenindividuell ausgestattet werden und erlaubt es dem CPS damit, mit der Umwelt zu interagieren. Eine Kamera wird für ein First-Person-Video-Streaming und eine Objekterkennung genutzt. Das Fahrzeug kann sich über ein modifiziertes WLAN oder optionales Funksignal mit anderen CPS oder HMI-Geräten verbinden und mit diesen kommunizieren. Auf den HMI-Geräten (z. B. eine handelsübliches Smartphone zusammen mit einem Webbrowser) kann das Videosignal dargestellt und gleichzeitig das Fahrzeug gesteuert werden.

 

Das CPS repräsentiert ein offenes, kommunizierendes Low-Budget-Embedded-System und ermöglicht, sich mit den Aspekten und Funktionalitäten vertraut zu machen, die für moderne Geräte und damit auch für eine moderne Produktion benötigt werden. Für die Lernfabrik bedeutet dies, dass durch den Einsatz von modernen Fertigungsverfahren wie Laser Cutter und 3D-Drucker einzelne Komponenten des Modellfahrzeugs wie Felgen hochindividualisiert nach Kundenwunsch unter Serienbedingung gefertigt werden.

 

Die Lernfabrik

In der Lernfabrik wird das oben beschriebene CPS unter Demonstration von CPS-Komponenten betrieben. Die Produktionslinie repräsentiert eine typische Produktionslinie mit einem veränderlichen Automatisierungsgrad (Bild 2). Beginnend bei einem niedrigen Automatisierungsgrad, wie es in vielen Unternehmen der derzeitige Stand ist, kann dieser schrittweise durch CPS-Elemente erhöht werden und Gesichtspunkte wie Verfolgbarkeit, Energieverbrauch, Produktionsanalysen usw. eingebracht werden. Damit können Arbeitsplätze mit manueller Tätigkeit in das Automatisierungssystem integriert werden. Die schrittweise Erhöhung des Automatisierungsgrads während des Workshops erlaubt es, die Ausbildung sowie die angewandten Methoden und Interaktionen von Studenten oder Mitarbeitern zu dokumentieren.

 

Der Produktionsprozess beginnt mit einer auftragsspezifischen, werkergeführten Kommissionierung, gefolgt von mehreren manuellen Montageplätzen. Diese können digitalisiert und vernetzt betrieben werden. Auch erfolgt eine digitale, individuelle Werkerführung durch die einzelnen Montageprozesse. Die Montageplätze sind nach Ergonomie- und Lean-Kriterien optimiert. Des Weiteren sind diese nach dem oben beschriebenen CPS- bzw. Automatisierungskonzept ausgestattet. Hier allerdings aus Gründen der Robustheit mit myRIOs. Für weitere Automatisierungsschritte sind z. B. ein fahrerloses Transportsystem bzw. eine klassisch automatisierte Fertigungsstraße vorgesehen. Die kundenindividuellen Teile sind frei durch den Kunden konstruierte Komponenten des Modellfahrzeugs wie Felgen oder Spoiler. Während der Konstruktion wird der Kunde durch eine App geführt. Die Bestellungen werden in Produktionsaufträge überführt. Diese Produktionsaufträge haben aufgrund des Customizings unterschiedliche Fertigungs- und Montagezeiten und müssen entsprechend in den Produktionsablauf eingelastet werden.

 

Am Ende der Produktionslinie erfolgt eine Qualitätssicherung, bei der die Fahrzeuge eine Teststrecke durchfahren. Nach erfolgreichem Abschluss wird das Fahrzeug an die Verpackungs- und Versandstation übergeben. Der gesamte Produktionsprozess ist für jedes Produkt dokumentiert, sodass die Verfolgbarkeit eines Auftrags ermöglicht wird. Daten von Arbeitsplätzen, Maschinen und Montagelinie werden ggf. in Echtzeit in einer Fabrik-Cloud verarbeitet, die auch für die Interauftragskommunikation genutzt wird. Hierzu wird ein modifiziertes Kommunikationsprotokoll genutzt, das aber auch mit nicht modifizierten Komponenten gemischt eingesetzt werden kann. Die Fabrik-Cloud überwacht die Aufträge und zugehörige spezifische Informationen und kommuniziert mit den unterlagerten CPS. So kann der Materialfluss dezentral durch diese CPS selbst organisiert werden und die Fertigungsaufträge geben über die Cloud selbst vor, was an den einzelnen Stationen mit ihnen geschehen soll. Die Kommunikation zwischen den Aufträgen wird möglich. Gleichzeitig wird der gesamte Prozess dokumentiert.

 

Automatisierung und Onotogie

In der Lernfabrik wird Intelligenz durch Dezentralisierung und Vernetzung erreicht. Voraussetzung hierfür ist, dass jede Maschine, jedes Gerät, jeder Sensor und sogar das Produkt selbst offen kommunizieren und mit den anderen CPS interagieren kann. Dafür werden ein spezifisches Kommunikationskonzept und eine Komponentenstandardisierung benötigt. Das verwendete Automatisierungskonzept der Lernfabrik basiert auf hochstandardisierter kleiner und offener Hard- und Software und wird um eine grafische Programmierumgebung ergänzt. Durch die Vernetzung der CPS wird die klassische Automatisierungspyramide zunächst aufgelöst. Es erfolgt eine Dezentralisierung, denn jedes CPS baut eine eigene dezentrale Automatisierungspyramide für sich selbst auf. Anstelle eines großen zentralen Automatisierungssystems tritt also die Vernetzung von vielen kleinen Automatisierungssystemen. Dies hat den Vorteil, dass viele verschiedene CPS/Gerätschaften miteinander verbunden werden können. Voraussetzung ist allerdings, dass das Kommunikationsprotokoll bekannt ist. Für die Umsetzung eines gemeinsamen optimalen Produktionsziels im Sinne von Hersteller und Kunde ist darüber hinaus die Ontologie entscheidend, d. h. die Datenorganisation und deren Kommunikation. Zur Umsetzung der Anforderungen sind eine Vielzahl von Rahmenbedingungen zu beachten wie Echtzeitfähigkeit, Zuverlässigkeit und Redundanzen, Security und vieles mehr. Die übergeordneten Funktionen werden von einem überlagerten Business-Öko-System gesteuert, das übergeordnete Daten sammelt und verwaltet sowie Aufträge plant.

 

Zusammenfassung

Die Lernfabrik der HTWG Konstanz ermöglicht Studenten ebenso wie (Gewerbe-)Schülern und Mitarbeitern von Firmen, moderne Produktion zu erfahren und zu testen. In der Lernfabrik wird ein intelligentes Modellfahrzeug als CPS gefertigt. Der Kunde kann das Modellfahrzeug aus einer großen Auswahl an Ausstattungsvarianten zusammenstellen, konstruktiv in die Produktentstehung eingreifen und somit das Modellfahrzeug individuell anpassen. Eingesetzt wird ein hoch standardisiertes Automatisierungskonzept, das auf einem nach Lean-Kriterien optimierten Produktionsprozess aufsetzt. Die gesamte Lernfabrik ist unter den gleichen Gesichtspunkten wie das Modellfahrzeug als CPS automatisiert. Zum Einsatz kommen NI-Komponenten wie myRIO, myDAQ, CompactRIO sowie grafische Programmierung mit LabVIEW – auch in Kombination mit Arduino-Boards. Das Konzept erlaubt zudem die Einbindung klassisch automatisierter Komponenten.

 

Informationen zum Autor:

Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth
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Bild 1: Modellfahrzeug als cyberphysisches Produkt
Bild 2: Layout der Lernfabrik