Zustandserfassung und intelligente Wartung bei Bahnschienen

Ingenieur Systemtechnik FH Marco Schmid, Schmid Elektronik AG, Electronic Design Specialty Partner von NI

"Der Charme des Graphical-System-Design-Ansatzes in diesem Konzept besteht darin, dass dem bisher eher traditionell orientierten Schienenmarkt nun modernste Technologien wie IIoT, Big/Smart Data und Cloud Computing zur Verfügung stehen. (...) So werden sich die Wartungskosten auf insgesamt 50 % senken und die Lebensdauer der Infrastruktur um 30 % verlängern lassen."

- Ingenieur Systemtechnik FH Marco Schmid, Schmid Elektronik AG, Electronic Design Specialty Partner von NI

Die Aufgabe:

Entwicklung eines Messsystems für die proaktive Instandhaltung von Bahnschienen bei maximalem Komfort und Sicherheit für den Bahnpassagier

Die Lösung:

LabVIEW diente als einheitliche Plattform, vom Embedded-System bis zur Cloud-Anbindung und Zustandsüberwachung

Autor(en):

Ingenieur Systemtechnik FH Marco Schmid - Schmid Elektronik AG, Electronic Design Specialty Partner von NI

 

Diese Kundenlösung wurde im Tagungsband 2016 des Technologie- und Anwenderkongresses „Virtuelle Instrumente in der Praxis“ veröffentlicht.

 

Eingesetzte Produkte: LabVIEW, System On Module (SOM)

 

Kurzfassung

Der Austausch von Bahnschienen und speziell Weichen ist sehr teuer, weshalb diese Infrastruktur bis ans Ende ihrer Lebenszeit in Betrieb bleiben soll. Gleichzeitig muss die Sicherheit gegen Entgleisen jederzeit gewährleistet sein. Das wird mit einem neuartigen Gesamtkonzept, bestehend aus modernster Messtechnik, Condition Monitoring und intelligenter Wartung, sichergestellt. Ob grafisch programmierbares, batteriebetriebenes Handmessgerät oder ein 24/7-Echtzeit-Steuerungssystem im Schleiffahrzeug: LabVIEW diente als einheitliche Plattform, vom Embedded-System bis zur Cloud-Anbindung und Zustandsüberwachung, und half den Entwicklungsingenieuren, die hohe Komplexität zu beherrschen. Die resultierende, proaktive Instandhaltung ermöglicht es jetzt, die Schieneninfrastruktur bis an die zulässigen Grenzwerte zu nutzen; und zwar bei maximalem Komfort und Sicherheit für den Bahnpassagier.

 

 

 

 

Von der Einzellösung zum Standard

Der Rad-Schiene-Kontakt eines Zugs, welcher ein Gleis oder eine Weiche befährt, ist eine knallharte Stahl-zu-Stahl-Verbindung. Diese ist hoher Dynamik ausgesetzt, was unweigerlich zum Verschleiß der Schieneninfrastruktur führt. Deshalb wird sie schon seit längerem dank regelmäßiger Inspektion und Instandhaltung im Zaum gehalten. Die bisherigen Prozesse zeigen drei wesentlichen Nachteile:

  1. In der Weiche ist es heute noch üblich, den Verschleiß mit mechanischen Lehren und damit qualitativ statt quantitativ zu überwachen. Das Fehlen „harter Fakten“ macht Condition Monitoring und Trending unmöglich. 
  2. Das Wartungspersonal rückt jeweils mit einem ganzen „Zoo“ verschiedener Instrumente mit unterschiedlichen Bedienkonzepten und Datenformaten aus. Konsequenz: Die Ergebnisse müssen am Ende des Tages manuell, z. B. mit Excel, zusammengeführt werden. 
  3. Die Rad- und die Schienenleute sitzen in „Silos“, weil ihre Bereiche schon immer unterschiedliche Domänen waren. Jeder betrachtet sein Problem isoliert, statt sich für den gesamten Rad-Schienekontakt verantwortlich zu fühlen.

Das hier vorgestellte Konzept bietet Lösungen für alle drei Problembereiche und schwächt dank Datentransparenz auch den letztgenannten Rad-Schiene-Konflikt ab. Es besteht aus drei Prozessen (Bild 2), die nachfolgend anhand je eines Beispiels beschrieben werden. LabVIEW und das System On Module (SOM) haben für durchgängige Standardisierung gesorgt, damit sich dem Anwender komfortable Instrumente mit einheitlichem Look-and-Feel bieten.

 

 

Digitalisieren von Schieneninfrastruktur (Measurement)

Eine Weiche enthält mehrere Merkmale (Bild 4) und seit den Siebzigern sind Methoden zum Vermessen und Analysieren bekannt. Viele Verkehrsbetriebe kochen heute ihr eigenes Süppchen und verlassen sich auf ihre Erfahrung, wie die Weiche überwacht werden soll. Grundsätzlich gibt es in einer Weiche zwei sensible Bereiche:

  1. Im Zungenbereich (Bild 3, links) werden Worst-Case-Szenarien des Rad-Schiene-Kontaktes simuliert, zur Gewährleistung der Entgleisungssicherheit. 
  2. Im Herzstückbereich (Bild 3, rechts) wird derjenige Bereich untersucht, der das Rad vom einen Schienenstrang an den nächsten übergibt.

 

LabVIEW auf eigener Hardware im Handmessgerät

Der Railmonitor (Bild 1) [1] ist ein laserbasiertes, mit LabVIEW programmiertes Handmessgerät, das eine Weiche komplett erfassen und quantifizieren kann. Damit wird digitale Zustandserfassung für diese wichtige Schieneninfrastruktur überhaupt erst möglich. Aufgrund der Anforderungen wurde nach der Tabelle 1 aus [2] das ZBrain-System (LabVIEW auf Mikrocontroller und DSP) gewählt:

  • Batterielaufzeit: bis zu 7 h, Gerätegewicht maximal 8 kg 
  • Bootzyklen: max 3 Sekunden. Das Gerät soll aus- und sofort wieder eingeschaltet werden können. 
  • Platzbedarf für die Elektronik: maximal 60 mm x 100 mm x 7,5 mm

Zum Einsatz kam der Scheckkartenrechner Z48-C1, der auf ein anwendungsspezifisches Baseboard aufgesteckt wird. Dieses stellt den Prozess-IO für die geräteinterne Sensorik zur Verfügung, implementiert eine Schnittstelle zum Industriedisplay und Keyboard und sorgt sich um das Batteriemanagement. Die robuste IP65-Mechanik wurde in 3D entworfen, und die meisten Alu-Teile sind aus dem Vollen gefräst. Aktuell werden die Daten noch über ein Speichermedium ausgelesen. Für die nächste Generation sind jedoch eine WiFi-Schnittstelle, ein 3-G/4-G-Modem und Assisted-GPS geplant. So werden sich die Daten live vom Feld direkt in die Cloud transferieren lassen.

 

Condition Monitoring (Management)

Das Ziel ist es, aus den Messdaten zuerst relevante Informationen, dann Wissen und schließlich Erfahrungen für den Wartungsprozess zu gewinnen. Schieneninfrastruktur verhält sich ähnlich wie ein lebender Organismus und altert abhängig von den Zugfrequenzen, -geschwindigkeiten und den Achslasten (Bild 4). Individuelle Instandhaltungsstrategien werden deutlich bessere Resultate erzielen als das herkömmliche „Gießkannenprinzip“.

 

Die Messungen werden in einer Datenbank nach einem Netzplan (Stammdaten) strukturiert abgelegt. So lassen sich über die Zeit und den Ort die Defekte für jedes Merkmal eindeutig finden. Von der präzisen Detailinformation für den Schienentechniker (Bild 3) bis zum einfachen „Ampelsystem“ für Entscheidungsträger (Bild 4) stehen die Ergebnisse auf mehreren Ebenen live zur Verfügung. Diese Software basiert zu 100 % auf LabVIEW und entwickelte sich in den letzten zehn Jahren vom einfachen Analysewerkzeug zu einem datenbankorientierten Condition-Monitoring-System, welches heute weltweit zum Einsatz kommt. Für die nächste Generation geplant ist eine IIoT- und Cloud-basierte Lösung, welche z. B. im chinesischen Guangzhou eingesetzt werden soll. Der dortige Verkehrsbetrieb stellt sich ein digitales Schienennetz vor, verknüpft mit allen verwendeten Messgeräten und Wartungssystemen. Die Ergebnisse sollen auf jeder Plattform verfügbar sein, vom PC über das Tablet bis zum Smartphone (Bild 5).

 

Intelligente Wartung (Maintenance)

Ist dank Messtechnik und Analyse der Zustand der Schienen und Weichen bekannt, werden vom Verkehrsbetrieb Wartungspläne erstellt und meistens externe Wartungsdienstleister beauftragt. Diese rücken jeweils nachts aus und schleifen oder fräsen die Infrastruktur während der Betriebspausen wieder in den Neuzustand. Es ist erwiesen, dass intelligente, d. h. mit Mess- und Regeltechnik ausgestattete Maschinen, klare Wettbewerbsvorteile bringen. Zuerst werden der aktuelle Zustand des Gleises aus der Cloud geladen (Bild 6, links) und anhand der Profilabweichungen die Schleifdurchgänge geplant. Schließlich wird der Schleifprozess mit Laserscannern überwacht, die direkt nach den Schleiftöpfen angebracht sind, bis das Schienenprofil wieder (fast) der Sollgeometrie entspricht (Bild 6, links). Damit lässt sich gezielt Schleifen und so die Anzahl der Durchgänge signifikant reduzieren. Die aus den Messergebnissen gewonnenen Stellgrößen werden über CAN an die Schleiftopfregelung (Bild 6, rechts) übertragen. Je nach Maschinentyp wird der Prozess auf einem Monitor in der Kabine oder auf Handhelds dargestellt, die über WiFi mit der Steuerung verbunden sind.

 

System On Module (SOM) im rauen Einsatz

Das Messsystem (Bild 7) im intelligenten Schleiffahrzeug (Bild 6) besteht im Wesentlichen aus vier Komponenten:

  • Zwei Lichtschnittsensoren, die mit 20 Hz und einer Punktwolke von 1.500 Messpunkten mit einer Genauigkeit von 0,25 mm beide Schienenprofile simultan abtasten. 
  • Eine robuste Hauptsteuerung inklusive Messrechner mit dem NI System on Module (SOM), SSD-Harddrive und GPS-Modul im gefrästen IP65-Alugehäuse
  • Ethernet und WiFi zum übergeordneten Leitrechner oder Anzeigedisplay 
  • 3G/4G-Modul für die Anbindung an die Cloud

Der Messrechner selbst ist ein Derivat einer standardisierten CPS-Plattform, die schon in der hocheffizienten Solaranlage „Sonnenblume“ zum Einsatz gekommen ist [2]. Er besteht aus einem NI System on Module, gesteckt in ein Baseboard mit kundenspezifischer Hardware.

 

Wie im Bahnbereich üblich, wird von der Hardware, Software und Mechanik über die EMV-Konformität hinaus höchste Zuverlässigkeit gefordert. Die Normengrundlage ist die DIN EN 50126: Bahnanwendungen – Spezifikation und Nachweis der Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit, Instandhaltbarkeit und Sicherheit (RAMS).

 

Von proaktiver Wartung zum „heiligen Gral“

Der Charme des Graphical-System-Design-Ansatzes in diesem Konzept besteht darin, dass dem bisher eher traditionell orientierten Schienenmarkt nun modernste Technologien wie IIoT, Big/Smart Data und Cloud Computing zur Verfügung stehen. Diese Begriffe und die damit verbundene Erwartungshaltung haben ihren Weg von der Industrie in die Bahntechnik nämlich längst gefunden. Und das nicht nur in Europa, sondern auch im fernen China, welches in den nächsten Jahren mehrere Städte mit neuen Tramsystemen und U-Bahnen ausrüsten wird. Im Gegensatz zu Europa beginnt China auf der „grünen Wiese“ und überbietet sich derzeit mit Begriffen wie „Smart City“, „Intelligent Transportation System“ und „Smart Cloud Platform for Big Data“. Ein Partnernetzwerk, bestehend aus der Autech AG (www.autech.ch), Zehnder AG (www.zehnderzuerich.ch) und Schmid Elektronik AG (www.schmid-elektronik.ch), hat ihre Strategie deshalb auf digitale Inspektion, Monitoring und Instandhaltung ausgerichtet. Es soll in einer ersten Phase die proaktive, vorausschauende Wartung ermöglichen. In einem zweiten Schritt steht das individuelle „Kochrezept“ (engl. Prescription) für jeden Infrastrukturbereich im Vordergrund. Damit soll nicht nur proaktiv aufgrund von Trendergebnissen gehandelt werden, sondern nach einem fixen Plan. So werden sich die Wartungskosten auf insgesamt 50 % senken und die Lebensdauer der Infrastruktur um 30 % verlängern lassen.

 

Informationen zum Autor:

Ingenieur Systemtechnik FH Marco Schmid
Schmid Elektronik AG, Electronic Design Specialty Partner von NI
Münchwilen 9542
Switzerland
Tel: +41 (0)71 969 35 90
Fax: +41 (0)71 969 35 98
marco.schmid@schmid-elektronik.ch

Bild 1: Mit LabVIEW programmierte Messgeräte digitalisieren das Gleis und senden die Daten in die Cloud. Dort werden mit Condition Monitoring die Störungen gefunden und dank intelligenter, proaktiver Wartung eliminiert.
Bild 2: Digitalisierung von Schienen und Weichen mit Messgeräten (Measurement, links), Analyse und Finden von Störungen mit Condition Monitoring (Management, Mitte), intelligentes Warten (Maintenance, rechts)
Bild 3: im Weichenzungenbereich (links) wird geprüft, ob ein bis zur Grenze verschlissenes Rad (Lehre 1) aufsteigen und damit entgleisen kann. Im digital erfassten Herzstückbereich (rechts) wird die Übergabe des Rads vom Stammgleis an das abzweigende Gleis untersucht.
Bild 4: die Weichenmess-Strategie (links) ist von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Je mehr Messpunkte, desto besser, aber auch teurer die Transparenz. Condition Monitoring (rechts) der gewählten Punkte zeigt, welche „Hotspots“ in welchem Intervall auftauchen.
Bild 5: Messdaten sollen nach einem Netzplan strukturiert abgelegt, verarbeitet und mit PCs, Tablets und Smartphones jedem stufengerecht zugänglich gemacht werden.
Bild 6: Lasermesstechnik überwacht kontinuierlich die Profilabweichung während dem Schleifen (links). Solange das Istprofil vom Sollprofil abweicht, werden die Schleiftöpfe (rechts) nachgestellt.
Bild 7: Zwei Laserscanner (unten) sind mit dem Hauptrechner (Mitte oben) verbunden und werden von einer Embedded-CPS-Plattform (CPS = Cyber-Physical System) basierend auf dem SOM (oben rechts) gesteuert.