Behandlung einseitiger Gesichtslähmungen mittels Reanimation der Muskeln bei geringer Latenz

Ville Rantanen, Tampere University of Technology

"Die NI-Plattform hat die Entwicklung unseres ersten Prototypensystems zur Stimulation der Gesichtsmuskulatur deutlich beschleunigt. Wir haben mehr erreicht, als mit alternativen Technologien möglich gewesen wäre."

- Ville Rantanen, Tampere University of Technology

Die Aufgabe

Behandlung einseitiger Gesichtslähmung durch Entwicklung eines Mess- und Steuersystems zur Stimulation der Gesichtsmuskulatur, mit dem die Muskelbewegungen der gesunden Gesichtshälfte gemessen und als Stimulus für die gelähmte Seite verwendet werden

Die Lösung

Einsatz von myRIO und benutzerdefinierter Elektronik zur Messung mehrerer Kanäle einer Oberflächen-EMG, Verarbeitung der erfassten Signale und Erzeugung von Stimulationssignalen zur Aktivierung der Gesichtsmuskeln mit der erforderlichen geringen Latenz und hohen Zuverlässigkeit

Autor(en):

Ville Rantanen - Tampere University of Technology
Jarmo Verho - Tampere University of Technology
Antti Vehkaoja - Tampere University of Technology
Petr Veselý - St. Anne's University Hospital Brno

 

 

Einseitige Gesichtslähmung und Stimulation der Gesichtsmuskulatur

Bei einer einseitigen Gesichtslähmung ist eine Hälfte des Gesichts aufgrund der Lähmung des Gesichtsnervs entweder teilweise oder komplett unbeweglich. Die Lähmung kann unterschiedliche Ursachen haben, darunter physische Traumata oder auch Infektionen.

 

Eine einseitige Gesichtslähmung tritt relativ häufig auf. Allein die am häufigsten auftretende idiopathische Form betrifft Berichten zufolge etwa einen von 60 bis 70 Menschen. Die Lähmung beeinträchtigt alltägliche Aktivitäten wie z. B. Blinzeln, Essen, Trinken und die soziale Interaktion. Probleme mit dem Blinzeln kann trockene Augen und sogar den Verlust des Sehvermögens zur Folge haben. Ein herunterhängender Mundwinkel kann das Essen und Trinken erschweren. Lächeln und andere für den sozialen Kontakt wichtige Gesichtsausdrücke werden dadurch verzerrt. Menschen, die unter Lähmungen leiden, können sich zudem ihres Aussehens schämen und das Gefühl haben, sich nur unzulänglich ausdrücken zu können.

 

Die Behandlung einer Gesichtslähmung zielt darauf ab, verloren gegangene Funktionen zurückzuerlangen, um die Lebensqualität wieder zu steigern.

 

Dauerhafte Lähmungen lassen sich zwar operativ behandeln, allerdings sind mit chirurgischen Eingriffen immer auch Risiken verbunden. Zudem sind sie oft kostspielig und es gibt keine Garantie, dass die verloren gegangenen Funktionen tatsächlich wiederhergestellt werden. In der Praxis zeigen manche Operationsverfahren zur Wiederherstellung des Gesichtsnervs Erfolgsraten von gerade einmal 20 Prozent.

 

Die prothetische Versorgung ist ein weiterer Ansatz, um Gesichtsfunktionen wiederherzustellen. Durch funktionelle Elektrostimulation lassen sich Gesichtsmuskeln mithilfe eines „Gesichtsschrittmachers“ bewegen und werden somit wieder funktionsfähig. Durch die Stimulation der Gesichtsmuskulatur wird die gelähmte Seite des Gesichts reanimiert. Das Stimulationssignal basiert auf der gleichzeitig durchgeführten Messung der gesunden Seite. So kann z. B. ein auf der gesunden Gesichtshälfte erkanntes Lächeln mithilfe elektrischer Stimulation auf der gelähmten Seite nachgebildet werden. Diese Art von Stimulation kann eine kurzfristige Lösung für den Zeitraum bis zur Operation oder, im Falle einer temporären Lähmung, bis zur natürlichen Heilung der Lähmung darstellen. Für eine kurzzeitige Stimulation der Gesichtsmuskulatur können tragbare Geräte eingesetzt werden, die Messungen und Stimulationen mithilfe von Hautelektroden durchführen. In Zukunft könnte die Prothetik eine effektive Alternative zu kostspieligen Wiederherstellungseingriffen darstellen, deren Erfolg nie gewährleistet ist. Implantierbare Geräte im Kleinformat sind dabei weniger auffällig und daher für den Dauereinsatz besser geeignet.

 

Ein effizientes System zur Stimulation der Gesichtsmuskulatur unterliegt strikten Leistungsanforderungen. So muss das System nicht nur die üblichen Anforderungen an medizinische Geräte erfüllen, sondern auch Determinismus und echte Parallelität bereitstellen, um synchrone Gesichtsausdrücke zu ermöglichen. Eine zulässige Verzögerung zwischen den Gesichtshälften (erfasste gegenüber stimulierte Bewegung) liegt im zweistelligen Millisekundenbereich.

 

 

Forschungsziele und aktueller Stand

Unser Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklung eines transkutanen Systems zur Stimulation der Gesichtsmuskulatur über den heutigen Stand der Technik hinaus. Derzeit bereiten das gezielte Aktivieren bestimmter Muskeln, das Erzeugen unterschiedlicher Stufen der Muskelkontraktion und die Gewöhnung an die Stimulation noch Schwierigkeiten. Um mögliche Lösungswege untersuchen zu können, benötigten wir ein Prototypensystem für die Forschung, das wir komplett benutzerdefiniert anpassen konnten – von der Messung bis hin zur Stimulation.

 

Wir haben ein Prototypensystem entwickelt, das wir für klinische Tests unter Aufsicht der nationalen Fürsorge- und Gesundheitsbehörde (Valvira) in Finnland verwenden. Wir haben bereits Tests im örtlichen Krankenhaus durchgeführt, um die Erregbarkeit der Gesichtsmuskeln bei gesunden Teilnehmern und Patienten mit einseitiger Gesichtslähmung zu untersuchen. Die erste praktische Anwendung zur Reanimierung des Augenblinzelns erfolgte ebenfalls. Unser System wird ständig weiterentwickelt, um weitere experimentelle Forschungen und klinische Studien durchführen zu können.

 

 

Entwicklung des Forschungsprototyps

Ursprünglich wollten wir unser eigenes Gerät mit Verstärkern für die Messung und Stimulation erstellen und es zusammen mit einem Laptop für die erforderliche Verarbeitung einsetzen. Die Anbindung an den Rechner hätte allerdings einen Engpass ergeben, der zu inakzeptablen Verarbeitungsverzögerungen geführt hätte. Die NI-RIO-Plattform (rekonfigurierbare I/O) stellte eine ideale Lösung dar, die uns nicht nur eine zuverlässige, deterministische Rechenleistung bietet, sondern auch die Integration der anwenderdefinierten Elektronik erleichtert. Unser Gerät verfügt derzeit über vier EMG-Messverstärker mit entsprechender Verstärkung und Bandbreite. Die vier Stimulationsverstärker erzeugen Konstantstromsignale für verschiedene Lasten mit einer maximalen Amplitude von ±48 mA und nominalen Maximalspannung von 100 V. Die Verstärkerbandbreiten lassen das Erzeugen arbiträrer Signalverläufe zu.

 

 

Die Hardware NI myRIO dient als Embedded-Controller. Damit messen wir die Signale der EMG-Verstärker, führen die Echtzeitverarbeitung der Daten aus und erzeugen Signale für die Stimulationsverstärker. Eine benutzerdefinierte LabVIEW-Anwendung, die auf einem gängigen Laptop ausgeführt wird, stellt eine drahtlose Verbindung zum myRIO her und sorgt für eine grafische Benutzeroberfläche und die Möglichkeit zum Datenloggen. Die grafische Benutzeroberfläche wird zur Konfiguration der Verarbeitungs- und Stimulationsparameter, zur Echtzeitdarstellung der Signale und zum Einrichten des Datenloggens benötigt. Für zeitkritische Aufgaben verwenden wir jedoch den integrierten FPGA des myRIO. Das Erzeugen genauer Stimulationsimpulse in Form von Rechtecksignalen mit Impulsbreiten von unter einer Millisekunde wäre ohne ein im zweistelligen Kilohertzbereich ausgeführtes FPGA-Programm nicht möglich. Aktuell erfassen und verarbeiten wir die EMG-Signale im FPGA, da eine hohe Abtastfrequenz das schnelle Erkennen einer kurz bevorstehenden Muskelaktivität aus dem Hintergrundrauschen ermöglicht.

 

 

Die Hardware myRIO vereinfachte den Entwurf unseres Prototypensystems erheblich, da wir den Großteil des Funktionsumfangs auf einem einzigen Gerät umsetzen konnten, angefangen bei den Analog- und Digital-I/O über die benutzerdefinierte Signalverarbeitung bis hin zur drahtlosen Verbindung. Die Analog-I/O verwenden wir für das Messen und Erzeugen von Signalen. Mittels Digital-I/O werden die Verstärker und LED-Anzeigen geschaltet und die Schaltflächen der grafischen Benutzeroberfläche sowie die Zustandsanzeigen der Stimulationsverstärker ausgelesen. Die integrierte drahtlose Verbindung von myRIO spielte für uns eine wichtige Rolle, da das Prototypensystem als Gerät für den medizinischen Einsatz konzipiert wurde. Eine physische Verbindung mit einem Rechner hätte Sicherheitsbedenken hervorgerufen. Mit der Entscheidung für myRIO als System-Controller haben wir zudem eine zukunftssichere Wahl getroffen. Dank der NI-RIO-Architektur können wir unsere vorhandene Software-IP komplett wiederverwenden und, falls nötig, auch ein Upgrade von myRIO auf ein höherwertiges Verarbeitungszielsystem (wie z. B. Single-Board RIO) mit höherer FPGA-Kapazität vornehmen.

 

 

 

 

 

Zusammenfassung

Die NI-Plattform hat die Entwicklung unseres ersten Prototypensystems zur Stimulation der Gesichtsmuskulatur deutlich beschleunigt. Wir haben mehr erreicht, als mit alternativen Technologien möglich gewesen wäre. Jetzt können wir von der umfassenden Programmierbarkeit des Prototyps profitieren, um unser Stimulationssystem weiter zu entwickeln, und in Zukunft auch spezifischere Anforderungen für den Entwurf tragbarer und leichtgewichtiger Geräte ermitteln.

 

Forschungsprojekt

Diese Arbeit ist Teil des Projekts Mimetic Interfaces, das von der finnischen Akademie (Nummern des Finanzierungsbeschlusses 278529, 276567 und 278312) finanziert wird. Hinter dem Projekt Mimetic Interfaces stehen:

Ville Rantanen, Sensortechnik und Bio-Messungen, Institut für Automatisierungswissenschaft und -technik, Technische Universität Tampere

Antti Vehkaoja, Sensortechnik und Bio-Messungen, Institut für Automatisierungswissenschaft und -technik, Technische Universität Tampere

Jarmo Verho, Sensortechnik und Bio-Messungen, Institut für Automatisierungswissenschaft und -technik, Technische Universität Tampere

Jukka Lekkala, Sensortechnik und Bio-Messungen, Institut für Automatisierungswissenschaft und -technik, Technische Universität Tampere

Mirja Ilves, Forschungsgruppe für Emotionen, Sozialität und Datenverarbeitung, Fakultät für Informatik, Universität Tampere

Jani Lylykangas, Forschungsgruppe für Emotionen, Sozialität und Datenverarbeitung, Fakultät für Informatik, Universität Tampere

Veikko Surakka, Forschungsgruppe für Emotionen, Sozialität und Datenverarbeitung, Fakultät für Informatik, Universität Tampere

Eeva Mäkelä, Institut für klinische Neurophysiologie, Zentrum für medizinische Bildgebung, Pirkanmaa Hospital District, Tampere

Markus Rautiainen, Institut für Otorhinolaryngologie, Medizinische Fakultät, Universität Tampere

Petr Veselý, Internationales klinisches Forschungszentrum, Universitätsklinikum Zur hl. Anna in Brünn

 

Referenzen

Ville Rantanen, Antti Vehkaoja, Jarmo Verho, Petr Veselý, Jani Lylykangas,

Mirja Ilves, Eeva Mäkelä, Markus Rautiainen, Veikko Surakka und Jukka

Lekkala. Prosthetic Pacing Device for Unilateral Facial Paralysis. Im Tagungsband

zur XIV Mediterranean Conference on Medical and Biological Engineering

and Computing 2016, Band 57 der IFMBE Proceedings, Seiten 647 – 652,

Paphos, Zypern, März – April 2016

 

Informationen zum Autor

Ville Rantanen
Tampere University of Technology
Finland

Abb. 1: Gesichtsnerv (Facial Nerve von Patrick J. Lynch, anatomischer Zeichner; C. Carl Jaffe, MD, Kardiologe [2006], lizenziert unter CC BY 2.5: http://creativecommons.org/licenses/by/2.5/)
Abb. 2: Prinzip der Stimulation der Gesichtsmuskulatur
Abb. 3: Das Prototypensystem für die Stimulation (myRIO, LEDs und Schalter sowie Anschlüsse)
Abb. 4: Beispielabschnitt des LabVIEW-FPGA-Programms – Initialisierung der myRIO-I/O